Es gibt diese recht breit gültige Ansicht, dass es eine besondere Ehre sei, wenn man dabei sein darf, wenn jemand stirbt.
Mal ganz unwissenschaftlich daher geschrieben: Sterbende scheinen in gewisser Weise ihren Todeszeitpunkt „steuern“ zu können. Mal scheint jemand, der im Sterben liegt, ausgerechnet dann zu sterben, wenn der Betreuende einkaufen gegangen ist. Oder aber es liegt jemand im Sterben und scheint zu warten, bis noch jemand ans Sterbebett kommt, mit dem noch ein klärendes Gespräch geführt werden muss, bevor er oder sie sterben „darf“…
Ja, da könnte man tatsächlich den Eindruck bekommen, dass es eine Ehre sei, wenn man beim Sterben präsent sein darf… Oder man ist enttäuscht, weil man genau diesen Moment verpasst…
Aber es tut mir leid, wenn ich hier mal den Finger heben muss:
NEIN!

Aus meiner Sicht ist es nicht so. Weder Ehre noch Enttäuschung passen für mich.
Die Hinterbliebenen haben die besondere Aufgabe, sich mit dem Todeszeitpunkt auseinanderzusetzen – ohne Einfluss haben zu können (in der Regel jedenfalls). Weder das Dabeisein noch das Abwesendsein ist leicht, beides hat seine ganz spezielle Herausforderung…
Fühlen Sie sich bitte JETZT geehrt!
Sicher ist es etwas Besonderes, beim Sterben anwesend zu sein – aber nicht unbedingt im Sinne von schön und bezaubernd… Ja, vielleicht ehrt es mich, vielleicht ehrt es unsere Beziehung, dass es Andreas wichtig war, dass ich dabei war, als er starb. Ich empfinde es als großen Vertrauensbeweis und muss auch gestehen, dass es mir geholfen hat, zu begreifen, dass er nun tatsächlich tot ist.
Aber es war eine wirklich harte Packung…
Andererseits habe ich Tode, bei denen ich nicht dabei war, irgendwie „irreal“ erlebt. Vielleicht leichter, weil die emotionale Belastung nicht so hoch war – aber das Begreifen, dass die Person nun tatsächlich nicht mehr am Leben ist… Das hat gedauert.
Gerade heute hat Thomas Achenbach dieses „Dabei sein“ in einem Blogbeitrag thematisiert. Hier geht es darum, die Kinder mitzunehmen. Ich lese das aber eher im Kontext, offen und ehrlich über das Sterben mit den Kindern umzugehen. Da gehe ich voll mit…
Für mich ziehe ich aus seinem Beitrag das schöne Zitat:
„Nicht dabei sein, macht die Sache nicht besser“
(Familientrauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper)
Beim Sterben selber habe ich meine Vorbehalte, die Kinder mitzunehmen. Was meinen Sohn angeht: ich bin heilfroh, dass mein Sohn nicht im Haus war, als Andreas starb…
Andreas war viel zu jung, wollte definitiv noch nicht sterben – er war noch nicht so weit… Auch wenn ich hier nicht ins Detail gehen mag: nein, er ist nicht friedlich eingeschlafen…
Verdammt noch mal… er hatte noch so viel vor… Ja, und es gab sicher noch die eine oder andere Ungeklärtheit in seinem Leben. Er hat gekämpft, nicht gehen zu müssen…
Der Tod kann sicherlich etwas ganz Wundervolles an sich haben. Es gibt Menschen, die gehen mit einem Lächeln auf den Lippen ganz entspannt von dieser Welt nach wo auch immer hin…
Aber bei wie vielen Todesfällen ist es denn so friedlich?
- Da sieht man den geliebten Menschen bei einem Autounfall sterben…
- Da stirbt jemand direkt neben dir an einem Herzinfarkt und du kannst ihn nicht wiederbeleben…
- Da liegt dein Partner morgens tot neben dir im Bett…
- Da hört das Herz deines ungeborenen Kindes auf zu schlagen…
- Da stürzt sich jemand vor deinen Augen vom Hochhausdach…
- …
Hurra, ich bin dabei gewesen?!? Autsch…
Ich habe wirklich lange damit gerungen, die Bilder des Sterbens für mich gut zu verarbeiten. Es brauchte viel Aushalten, es brauchte viel Reden und es hat mir große Schmerzen bereitet. Ja und ich brauchte dazu Hilfe von meiner Trauerbegleiterin. Tipps und Tricks, um die Bilder neu zu sortieren.
Hier zuckt direkt mein missionarischer Zeigefinger: solltest du traumatische Erlebnisse in der Sterbephase erlebt haben, hole dir bitte Unterstützung. Du musst nicht alleine damit fertig werden (natürlich darfst du es, wenn du die nötigen Selbstheilungskräfte hast, keine Frage), du musst nichts „schaffen“ oder dich da „durchbeißen“. Es ist niemals ein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe zu holen (im Gegenteil: es gehört Mut dazu!) – und diese Erlebnisse sind echt größer als das, was man so „mal eben“ verarbeiten kann. (So, Zeigefinger wieder eingepackt ;) )
Sprich es aus…
Bei diesem Thema spüre ich bei mir selber eine grooooooße Hemmschwelle. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich irgendeinem mir Nahestehenden erzählt hätte, wie fürchterlich quälend die Sterbephase für mich war.
Im Gegenteil: seiner Mutter gegenüber habe ich gelogen und gesagt, er wäre ganz ruhig gestorben – warum?!? Weil es ihr wichtig war und weil es ihr nicht geholfen hätte, wenn ich ehrlich gewesen wäre…
Aber mir hätte es geholfen, ehrlicher und offener damit umgehen zu dürfen.
Dieses „nicht-Dürfen“ habe ich mir allerdings selbst auferlegt.
Andererseits hat aber auch niemand in meinem Umfeld direkt danach gefragt, wie es für mich war.
Gerade bei diesem Punkt wünsche ich mir von Herzen mehr mutige Menschen, die sich trauen, nachzufragen – und auch eine nicht weichgespülte Antwort aushalten können…
Was kann ich tun?
Um das Gedankenkarussell zu stoppen, fand ich es eine hilfreiche Anregung, mir ein „Stopp“-Schild zu visualisieren, wenn mich schlimme Erinnerungen überkamen. Das Gedankenkarussell bringt keinen Fortschritt, sondern alles dreht sich im Kreis und nimmt manchmal ein irres Tempo an… Bewusst atmen und das Stopp-Schild ins Bewusstsein holen. Schön ist es, wenn man es dann noch schafft, ein für sich positives, angenehmes Bild aufzurufen oder sich ganz intensiv eine beruhigende Farbe vorzustellen.
Noch ein – wie ich finde – hilfreicher Tipp: ein Gummiband ans Handgelenk. Hä?! Wie bitte?! Ja, wirklich: an diesem Gummiband kann man nämlich ziehen und es auf die Haut flitschen lassen. Ein kurzer intensiver Schmerzimpuls holt die Gedanken wieder ins Hier und Jetzt…
Also: falls dir einmal jemand begegnet, der ein Gummiband am Handgelenk trägt – vielleicht, nur vielleicht, hat es eben diesen schmerzhaften Grund… Wenn du dann nicht kopfschüttelnd weitergehst, sondern einen mitfühlenden (nicht mitleidigen) Gedanken verspürst, machen wir die Welt ein klitzekleines Stück besser ♥
Liebe Anja,
danke für diesen Artikel, er lässt mich nachdenken…
Ich habe meinen Sohn vor 51 Wochen verloren – er war knapp 2,5 Jahre alt und litt an einer tödlich verlaufenden Krankheit – und nächste Woche jährt sich dieser schreckliche Tag zum ersten Mal.
Es war für mich immer eine Horrorvorstellung ihn eines Morgens tot im Bett zu finden und genau so ist es letzten Endes auch gekommen. Es kam sehr überraschend und es macht mir sehr zu schaffen, dass er allein sterben musste, ich nicht bei ihm war und nicht weiß, ob er in seinen letzten Stunden und Minuten Schmerzen oder Angst oder Atemnot hatte, ob er erstickt ist. Ich hätte ihm gern beigestanden, hatte gehofft diesen letzten Weg mit ihm gemeinsam zu gehen… ⭐💛
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Ach, liebe Laura,
ich danke dir sehr, dass du deine Gedanken hier teilst. Ich bin sehr gerührt von deinen Zeilen und suche nun mit Tränen in den Augen nach passenden Worten…
Fühl dich gedrückt, wenn du magst… Ich kann nur ahnen, wie schwer das für dich sein mag. Ich sehe auf Facebook, wie sehr dein Marty immer bei dir ist, das finde ich berührend schön… Diese Liebe wird dir Halt geben und dich auch über den Jahrestag tragen…
Wenn ich so von dir lese, dann habe ich das Gefühl, dass du immer mit deinem Herzen bei ihm warst und bist… Du hast ihm auf deine Art beigestanden – auch wenn du physisch nicht da warst, als er starb… Er hatte dich ganz nah bei sich.
Ich wünsche dir, euch ganz viel Kraft, um durch die nächsten Tage zu kommen… Schritt für Schritt…
Herzliche Grüße,
Anja
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Liebe Anja, mutig und wichtig, dass du dieses Thema ansprichst. Und eine Einladung, endlich mal meine Erfahrungen dazu zu teilen (denn diese Dinge will keiner sonst wirklich hören).
Ich war in diesem Jahr bei beiden Schwiegereltern im Moment ihres Todes dabei. Meine Schwiegermama ist in der Notaufnahme gestorben. 4 Stunden lang gingen die Vitalwerte runter, die Monitore haben gepiepst und es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Countdown. Nach 4 Stunden waren alle Werte bei Null. Sie stand unter Morphium und ist sehr friedlich eingeschlafen. Für mich war es das erste Mal, dass ich bei einem Tod dabei war. Und da es sehr plötzlich kam (sie wurde wegen Verdacht auf Chemo-Nebenwirkungen eingeliefert) hat uns das sehr unvermittelt getroffen, als die Ärztin sagte, dass sie in den nächsten Stunden sterben wird. Mich haben vor allem die Bilder des Monitors mit den Werten, wie sie von 100 auf 0 runtergingen viele Wochen im Schlaf verfolgt, da es etwas sehr technisches hatte. Bis heute bin ich etwas verstört und entsetzt, wie schnell ein Mensch sterben kann. Die Tatsache, dass sie nicht gelitten hat, tröstet – alles andere ist eine Erfahrung, die mir auch etwas gibt. Ich habe die Angst vorm Sterben etwas mehr verloren.
Ganz anders war es im Juni. Nur 6 Monate nach diesem Erlebnis waren wir dabei, als mein Schwiegerpapa auf einer Palliativstation gestorben ist. Sein Sterben ging über 2-3 Tage und man konnte sehen, wie von Stunde zu Stunde die Kräfte nachließen und die Atmung flacher wurde. Die letzten 2 Stunden habe ich als sehr unangenehm empfunden, denn es ähnelt wohl dem, was du liebe Anja auch bei deinem Andreas erlebt hast. Er wollte nicht gehen, hat stark gerungen und wirklich um den letzten Atemzug gerungen. Dieser Prozess hat irgendwie gezeigt, im Gegensatz zur Schwiegermutter, die unter Morphium gestorben ist, dass der Körper ein Kraftwerk ist und nach und nach alle Funktionen nachlassen. Ich bin ein sehr visueller Mensch, bei dem sich Bilder einbrennen. Dieses Ringen um Luft hat mich wiederum Wochen lang im Schlaf begleitet. Angst vor dem Sterben habe ich dadurch jedoch nicht wieder bekommen. Denn auch dieses Sterben war letztlich friedlich und irgendwie der letzte Akt eines Lebens, das zu dem Menschen, der es geführt hat, gepasst hat.
Ich merke, da das beides erst in diesem Jahr passiert ist, wie tief die Bilder und Erinnerungen sitzen. Freunde und Bekannte fragen nicht, was das mit einem selbst gemacht hat, dabei gewesen zu sein. „Ist er friedlich gestorben?“ – Das ist die meiste Frage. „Wie geht es euch damit?“ wurden wir kein einziges Mal gefragt. Sterben ist wohl wie Geburt. Man hat es sich nicht ausgesucht – beim einen ist es so, beim anderen so. Es tut nicht weh – das nehme ich daraus für mich mit. Aber es ist mitunter auch herausfordernd dabei zu sein. Aber nicht im negativen Sinne. Denn Sterben ist wohl einfach auch ein Teil vom Leben. Urgs.
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Liebe Kerstin,
wie toll, dass du dich eingeladen fühltest! Ich habe mir das Bloggen ja als Gedankenaustausch gewünscht… Wunderbar!
Uffz… Da hast du ja ganz schön was mitgemacht. Ich kenne diese Reihung von Toden leider auch und kann daher (hoffentlich) ein wenig mitfühlen, wie es dir damit gehen mag.
Sind denn diese Schlafstörungen durch die traumatischen Erlebnisse wieder vorbei gegangen? Ich wünsche dir sehr, dass es für dich ruhiger werden darf!
Ja, Sterben ist ein Teil unseres Lebens. Ich glaube daran, dass es begreifbarer für uns wird, wenn wir uns (so wie jetzt zum Beispiel) damit auseinandersetzen.
Hm… Warum spricht man nun so wenig über das Sterben an sich? Vielleicht gibt es heutzutage gar nicht so viele Menschen, die das überhaupt miterleben (die beruflich damit Befassten einmal ausgeklammert). Kranke Menschen sterben häufig im Krankenhaus, alte Menschen vielfach im Pflegeheim… Oder alleine…
In meinem Umfeld sind verhältnismäßig viele Menschen gestorben – ich war aber nie dabei bis auf dieses eine Mal… Wenn man es nie erlebt hat, kann man sich vermutlich gar nicht vorstellen, wie es sein könnte. Selbst im Fernsehkrimi sterben die Opfer maximal mit einem dramatischen Seufzer. Zack. Andere Sterbeszenen im Fernsehen erinnere ich immer als „friedlich im Bett eingeschlafen, Tränen der Hinterbliebenen – hach, doch ganz schön“…
Tja, und wenn man sich den Tod dann schmerzvoll und dramatisch vorstellt, macht das Angst – und dann redet man lieber doch erst gar nicht darüber, bevor die Angst noch größer wird…? Urgs.
Schön finde ich es, wenn wir versuchen, alle Facetten wahrzunehmen. Wie du schreibst „beim einen ist es so, beim anderen so.“
Herzliche Grüße,
Anja
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