Spieglein, Spieglein,…

Spieglein, Spieglein,…

Es gibt so Tage, da weiß man einfach nicht, woher man Kraft nehmen soll, um aufzustehen – geschweige denn, überhaupt in den Tag zu starten oder gar zur Arbeit zu gehen, oder? Man hat gar nicht oder nur wenig geschlafen, der Tag sieht grau aus, im Kopf ist irgendwie alles grau,… Und es will sich einfach kein Grund finden, aufzustehen – außer die Vernunft, die dir sagt: „du musst! Reiss dich zusammen und funktioniere!“

Auweia… Der Abend an den ich mich hier erinnere war ein Albtraum. Schier endlos scheinender Schmerz… Schuldgefühle… Vermissen… Einsamkeit… Wieder Schuldgefühle…  Ich habe sooooo viel geheult…

Ich erinnere mich gut an den Morgen danach… Mühsam aus dem Bett gequält. Nützt ja nix… Der Alltag ruft… Im Bad dann der Schock: Waaaaaaahhhh?!?

„Wer ist diese Frau da drin, sag mir nicht, dass ich das bin – der werd‘ ich sicher nicht die Zähne putzen!“

(Ina Müller)

Kennst du das Lied? Ina Müller textet extrem auf den Punkt und das sehr lustig. Ihr hilft am Ende ihre alte Brille – mir hätte keine noch so unscharfe Brille durch diesen Tag geholfen. Höchstens eine tiefschwarze Sonnenbrille, und zwar nachts :O/

Ich bin aber sowas von schnell aus dem Bad geflüchtet und habe mich noch mal im Bett versteckt und die Decke über den Kopf gezogen…

Notruf an Gisela*… Schnell eine Whatsapp getippt und mich beklagt: Ich sehe grauenvoll aus… Ich schaffe das nicht, ich kann nicht in diesen Tag… Ich bin so fertig und man sieht es auch noch. Wie bitte soll ich es schaffen, in die Öffentlichkeit zu gehen?!

Es hat so gut getan, ihre Rückmeldung zu lesen. Wie wohltuend, dass jemand in dieser großen Not für mich da ist! Sie hat mir ein wenig (äh, nein, ganz ordentlich!) den Kopf gerade gerückt…

Die Antwort von ihr werde ich nie vergessen:

„Ich mag diese Frau! Sie ist soooo toll. Sie kämpft und liebt und leidet – da darf man auch ein paar Spuren sehen.“

Schwupps saß ich wieder in Tränen aufgelöst da… Nun aber vor Rührung und voller Dankbarkeit. Wow… wie wahr! Ich boxe mich durch die tiefsten Tiefen und durch die dunkelsten Abgründe. Und erwarte wirklich ernsthaft, dass das spurlos an mir vorübergeht? Und nächste Frage: warum bitte soll das spurlos passieren? Warum darf niemand sehen, wie es mir geht? Warum zum Henker darf ich meiner Umwelt nur ein Lachen zeigen, einen lockeren Spruch präsentieren, nur Leichtigkeit vermitteln? Auf die Frage „wie geht’s dir?“ immer nur mit „danke, gut.“ oder „jaja, muss ja…“ antworten? Ist es nicht viel authentischer, wenn ich mich zeige, wie ich gerade bin? An diesem Tag hat sich bei mir etwas bewegt, verändert…

Mutig habe ich mir im Spiegel in die Augen geblickt… HA! So sieht es eben aus, wenn man kämpft. Tschakka!

Dann hatte ich eine wunderbare Idee (huch?!? Eigenlob?! Aber die Idee war wirklich großartig, finde ich immer noch, also musst du da jetzt durch ;0): ich habe mir einen Edding geschnappt und damit meinen Spiegel im Bad beschriftet. Dort steht nun seit diesem Morgen der Spruch von Gisela und erinnert mich stetig daran, mich so zu akzeptieren wie ich bin… Mich so zu lieben wie ich bin. Voll und ganz… Strahlend und glücklich oder verquollen und tieftraurig.

Mein Gesicht darf meine Gefühle spiegeln…

Natürlich ist es selten leicht, den Mut zu finden, sich mit all‘ dem, was uns von der Gesellschaft als „unpassend“ vermittelt wird, in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Manchmal wäre es einfacher mit einer Tarnkappe oder einem Kartoffelsack… Echt ist es aber doch, wenn wir uns mutiger nach draußen wagen und uns zeigen, wie wir eben gerade sind.
Wenn ich mir überlege: war ich jemals empört, weil mir jemand tränenüberströmt begegnet ist? Habe ich mich etwa angegriffen gefühlt? …auf diese Idee würde ich noch nicht mal kommen. Zeigt mir ein Mensch seine Gefühle, egal welche Facetten, dann erregt das meine Aufmerksamkeit, meine Anteilnahme, ein Involviertsein. Positiv wie negativ. Und es ist doch wertvoll, wenn wir einander wahrnehmen, wenn wir uns begegnen – statt einfach so aneinander vorbei zu rennen… Ich mag dieses Glattgebügelt-Unauffällige nicht. Das empfinde ich als unaufrichtig.

Natürlich gibt es Tage, da ist es mir unangenehm oder sogar peinlich, wenn ich in Tränen ausbreche, weil mich etwas mehr berührt als es im Business-Alltag vielleicht angemessen wäre. Aber immer häufiger mute ich mich meinem Umfeld so zu, wie ich eben bin: emotional, facettenreich, bewegt, un-glatt,…

Wie gehst du mit deinen Gefühlen um? Hemmungslos oder Tarnkappe?

 

* meine Trauerbegleiterin: Gisela Sender (danke für dich ♥)

© Anja Pawlowski

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